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Kleine Tessiner Kastanien-Renaissance

Jahrhunderte waren Kastanien im Tessin das „Brot der Armen“. Die Bäume prägen bis heute das Landschaftsbild. Doch seit einigen Jahrzehnten verfallen die meisten Selven. Jetzt gibt es eine kleine Renaissance.

Über fünf Jahrzehnte sind es her, seit in dieser Kastanien-Selve am Monte Ceneri zum letzten Mal die frühreifen „San Michele“-Kastanien geerntet wurden. Gut möglich, dass jahrhundertelang der 29. September, der Tag des heiligen Michael, in dieser Gegend den Charakter eines Erntedankfestes angenommen hatte. Denn erstmals nach langen Monaten, während derer es Kastanien nur als Mehl oder gedörrt zu essen gab, brutzelten an diesem Tag wieder frische Früchte in der Pfanne: Grund genug für ein Festessen. Doch diese Zeiten sind unwiderruflich vorbei. „Heissi Marroni“ – aus Italien – erwärmen als willkommene Zwischenverpflegung höchstens noch die Mägen der Jahrmarktbesucher. Heute macht die Kraft der Natur aus dem von Menschenhand geschaffenen Kunstprodukt Kastanien-Selve wieder jene Waldlandschaft, wie sie hier vor 2000 Jahren existiert hat. Eine Esche ist zwischen den mächtigen Kastanienstämmen in die Höhe geschnellt. Linden, Ahorn, Kirschbäume, Buchen, Birken und einige Eichen machen es ihr nach. Junge Kastanienbäume gibt es fast nicht mehr. Ohne menschliches Zutun haben sie, die in ihrer Jugend viel mehr Licht als andere Bäume brauchen, keine Chance. Noch drücken die Kastanien dem Tessin ihren Stempel auf: Jeder fünfte Baum im Südkanton ist eine Edelkastanie. Nördlich des Gotthards ist es gerade einer von 100. Doch die Kastanien-Epoche neigt sich auf der Alpensüdseite ihrem Ende zu.

Edelkastanie

Über fünf Jahrzehnte sind es her, seit in dieser Kastanien-Selve am Monte Ceneri zum letzten Mal die frühreifen „San Michele“-Kastanien geerntet wurden. Gut möglich, dass jahrhundertelang der 29. September, der Tag des heiligen Michael, in dieser Gegend den Charakter eines Erntedankfestes angenommen hatte. Denn erstmals nach langen Monaten, während derer es Kastanien nur als Mehl oder gedörrt zu essen gab, brutzelten an diesem Tag wieder frische Früchte in der Pfanne: Grund genug für ein Festessen. Doch diese Zeiten sind unwiderruflich vorbei. „Heissi Marroni“ – aus Italien – erwärmen als willkommene Zwischenverpflegung höchstens noch die Mägen der Jahrmarktbesucher. Heute macht die Kraft der Natur aus dem von Menschenhand geschaffenen Kunstprodukt Kastanien-Selve wieder jene Waldlandschaft, wie sie hier vor 2000 Jahren existiert hat. Eine Esche ist zwischen den mächtigen Kastanienstämmen in die Höhe geschnellt. Linden, Ahorn, Kirschbäume, Buchen, Birken und einige Eichen machen es ihr nach. Junge Kastanienbäume gibt es fast nicht mehr. Ohne menschliches Zutun haben sie, die in ihrer Jugend viel mehr Licht als andere Bäume brauchen, keine Chance. Noch drücken die Kastanien dem Tessin ihren Stempel auf: Jeder fünfte Baum im Südkanton ist eine Edelkastanie. Nördlich des Gotthards ist es gerade einer von 100. Doch die Kastanien-Epoche neigt sich auf der Alpensüdseite ihrem Ende zu.

Kein Bedauern

In 100 Jahren wird es in den verfallenen Selven am Monte Ceneri fast keine Kastanienbäume mehr geben. Im ganzen Kanton werden sie allmählich in den Hintergrund gedrängt. Das zeigen die Studien der Aussenstation Südalpen des Forschungsinstitutes für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Der WSL-Forstingenieur Marco Conedera bedauert das nicht. „Es ist eine natürliche und normale Entwicklung. Sie fördert andere Baumarten und lässt die ursprüngliche Waldlandschaft wieder entstehen“. Dass er sich in der vor 13 Jahren gegründeten „Gruppo di lavoro sul castagno“ engagiert, die sich um die Rettung der letzten Kastanienselven bemüht, ist kein Widerspruch. „Es geht um die Frage, wo wir die Natur- und wo die Kulturlandschaft mit den Kastanienselven wollen. Beides hat seine Berechtigung. Aber nur aus Nostalgie dürfen wir die Kastanienkultur nicht erhalten“. Für Conedera machen Kastanien nur noch dort Sinn, wo sie „landschaftlich, ökonomisch oder kulturell“ gefragt sind.

Hohes agrokulturelles Niveau

Und da kommt ein Standort wie die abgelegene, verfallene Selve auf 600 Metern Höhe nicht mehr in Frage. Dem Kennerblick erschliesst sich ihre Vielfalt. Die Kastanienbäume sind in Reihen mit Abständen von 10 Metern gepflanzt worden. Dass sie alle in ihrer Jugend gepfropft worden sind, erkennt man bei genauem Hinsehen: Auf Kopfhöhe zieht sich eine kleine Verfärbung um den Stamm. Gepfropft wurden praktisch alle Kastanienbäume. Nur so konnte die beste Qualität über Generationen erhalten werden. Die Tessiner haben die Technik wahrscheinlich von den Römern gelernt. Es entstand eine vom Menschen geschaffene Monokultur, die Kastanienselve, wo für andere Baumarten kein Platz ist

Sortenvielfalt

Im Kontrast dazu steht die Sortenvielfalt. Conedera zählt alleine in der zerfallenen Selve am Monte Ceneri vier Sorten auf: Die früh reifenden, aber nur schlecht haltbaren „San Michele“; „Pinca“, die sich zum Dörren und Braten eignen und gut schälen lassen; „Tenasca“, eine Brat-Kastanie, deren mächtiger Stamm auch dazu diente, eine Selve zu markieren, und schliesslich „Margreta“, die sich gut kochen lässt. Conedera erforscht seit 12 Jahren die Tessiner Kastanienkultur. Als er sich auf die Suche nach den typischen Kastaniensorten machte, kam er aus dem Staunen nicht heraus: 119 Sortennamen hat er bis heute ermittelt. 59 Sorten hat er in den Selven noch aufgefunden. Den Rekord hält der Ort Breno im Malcantone: Dort waren auf engem Raum 16 verschiedene Kastaniensorten bekannt, eine jede mit spezifischen Eigenschaften. Im Verlauf von Jahrhunderten hatten sich die Kastanienpflanzer zu Spezialisten ihres Fachs entwickelt. Nicht nur aus geschmacklichen Gründen drängte es sich auf, verschiedene Sorten anzupflanzen: Die einen für den Sofort-Konsum, andere zum Dörren und für die Mehlproduktion, wieder andere als Lager-Sorten, die sich bis in den Frühling hielten. Und dann galt es noch, geeignete Sorten für Klimazonen von 200 bis auf 1000 Höhenmeter zu züchten. Die drei ältesten Tessiner Kastaniensorten gibt es seit mindestens 700 Jahren. „Buné Negro“, „Lüina“ und „Rosseira“ sind in einem Dokument aus dem Jahr 1295 erwähnt. Doch die Ursprünge dürften noch mindestens drei Jahrhunderte weiter zurückreichen, wie eine Studie des Geobotanischen Institutes der Universität Bern gezeigt hat. Die Analyse von Pollen aus dem Grund des Origliosees zeigt einen deutlichen Anstieg der Kastanien um das Jahr 1000.

Römer als Baumimporteure

Eingeführt worden sind die ursprünglich nicht im Tessin heimischen Kastanien von den Römern. Als um die Jahrtausendwende infolge einer Klimaerwärmung auch die höher gelegenen Täler stärker besiedelt wurden, reichte der bis dahin dominierende Weizen nicht mehr aus. In den hohen Lagen war die Kastanie im Vorteil: Sie liefert auf der gleichen Fläche dreimal soviel Nährstoffe wie Getreide. Diese Dominanz hielt bis ins 17. Jahrhundert an. In dieser Zeit entwickelte sich der Tessiner Kastaniengürtel, der bis heute das Landschaftsbild prägt. Den Niedergang leiteten Weizenimporte, die Einführung von Kartoffel und Mais und eine Nutzungsänderung ein: Kastanien wurden verstärkt zur Holzkohle- und später Tanninproduktion verwendet. Die Nahrungsmittelknappheit im 2. Weltkrieg bescherte den Kastanien nochmals eine kurze Blüte. Bis zu 60 Euro-Cents wurden damals für ein Kilo bezahlt – ein Preis, der bis heute nicht wieder erreicht wurde. Nach dem Krieg war es mit der Kastanienherrlichkeit für immer vorbei. Den Niedergang beschleunigt hat der Kastanienrindenkrebs, eine aus den USA eingeschleppte Seuche. Zwar sind die europäischen Kastanien nicht – wie in grossen Teilen der Vereinigten Staaten – vollständig ausgerottet worden, weil sie sich als überraschend resistent erwiesen. Dennoch fielen Tausende Bäume dem Rindenkrebs zum Opfer. Sie wurden nur selten durch Artgenossen ersetzt. Der Niedergang der Tessiner Kastanienkultur hat aber auch einen anderen Grund: Das Leben mit der Kastanie war hart und entbehrungsreich. Die Armut zwang bis weit ins 20. Jahrhundert Tausende in die Emigration. Als nach dem zweiten Weltkrieg der Wirtschaftsboom auch die Südschweiz erfasst, trauerte niemand der Zeit nach, als das „Brot der Armen“ die Menschen mehr schlecht als recht ernährte.

Erhalt bei Interesse

„Die Tessiner Kastanienkultur hat eine Berechtigung. Doch nicht einfach um ihrer selbst willen,“ sagt Marco Conedera. Es brauche mehr dazu: „Zuerst müssen die Einheimischen mitziehen. Denn sie sind es, die letztlich die Selven pflegen müssen“. An einigen Orten im Tessin ist das schon gelungen. Zum Beispiel im oberen Malcantone. Hier sind auf Initiative der „Gruppo di lavoro sul castagno“, dem Fonds Landschaft Schweiz und dem lokalen Forstdienst rund 40 Hektaren Selvenfläche rekultiviert worden. Das hat 180’000 Euro gekostet, die mit Spenden und Beiträgen der öffentlichen Hand aufgebracht wurden. Wo noch vor wenigen Jahren ein fast undurchdringlicher Wald sich breitmachte, führt heute in Arosio der Weg zum Fussballplatz durch die parkähnliche Selvenlandschaft, vorbei an meterdicken Kastanienstämmen mit mächtigen Kronen. „Mit natürlichen Waldbeständen hat eine Selve gar nichts zu tun“, erklärt Marco Conedera. Sie ist ein reines, von Menschenhand geschaffenes Kunstprodukt und bedarf der ständigen Pflege. Sonst geht sie zugrunde“. Doch der Pflegeaufwand hält sich in erträglichen Grenzen – wenn die Selve einmal in Schuss ist.

 
Die grosse Arbeit stand in Arosio und dem benachbarten Mugena an, als es galt, die Selven zu rekonstruieren. Bis zu 25’000 Franken kann das pro Hektar kosten. Kein Wunder: Denn schliesslich muss ein ganzes Waldstück bis auf die Kastanien ausgeräumt werden. Dazu kommen die Kronen, die – wie bei Obstbäumen – gestutzt werden müssen. Nicht alle Bäume lassen sich retten. Manche müssen gefällt und durch Jungbäume ersetzt werden. Der frei gewordene Boden wird angesät: Wie dereinst weiden hier heute wieder Schafe und Ziegen. Der dazu geschaffene, gut ausgeschilderte Kastanienlehrpfad (sentiero del castagno) hat sich binnen kurzem zu einer touristischen Attraktion entwickelt. Kleinere Selvenflächen werden in Calonico in der Leventina und in Sagno oberhalb von Chiasso rekultiviert. Dazu kommen die Bündner Südtäler mit den prächtigen Kastanienhainen in Castasegna im Bergell, in Campocologno bei Brusio und im Misox. 

Bescheidene Renaissance

Doch letztlich sind die wieder instand gesetzten Selven nur noch ein Abglanz der noch 1917 über 8000 Hektaren kultivierten Flächen. Zur Hochblütezeit sollen es gar 10000 Hektaren gewesen sein. Heute sind es noch etwa 1400, wobei nur noch die wenigsten wirklich gepflegt werden. Eine bedauerliche Entwicklung? Marco Conedera verneint energisch. „Es ist der Zeiten Lauf, der sich gar nicht aufhalten lässt. Aber es ist wichtig, das kulturelle Erbe der Kastanienkultur zu bewahren. Uns geht es auch darum, kommenden Generationen die Option, dereinst die Selven zu rekultivieren, offenzuhalten.“ Im Tessin ist in den vergangenen Jahren einiges in Bewegung geraten. Seit kurzem erhalten die Kastanienbauern ähnlich wie Obstbauern in der Nordschweiz vom Staat Subventionen, wenn sie die Selven bewirtschaften – auch wenn es sich laut Gesetz um einen Wald handelt. Doch die Bedingungen bleiben schwierig, weil die ökonomische Rechnung kaum aufgeht. Mit 30 Euro-Cents pro Kilo Kastanien kalkuliert ein Bauer in Italien. Damit ist auf Tessiner Boden kein Staat zu machen. Schon gar nicht, wenn die Kastanien von Hand geerntet werden müssen. Versuche, mit Maschineneinsatz die Arbeit zu rationalisieren, zeitigen immerhin erste Ergebnisse. „Heissi Marroni“, gebratene Edelkastanien, sind vor allem in der Deutschschweiz im Winter beliebt, wo sie sich trotz harter Konkurrenz durch Kebab und Co. als beliebtes Fast Food behaupten. Der Einstieg ins Marronigeschäft, das am meisten Gewinn verspricht, ist dennoch nicht drin: Die Tessiner Kastanien sind zu klein und haben gegen die italienische Konkurrenz – für 10 Millionen Euro werden jährlich Marroni in die Schweiz importiert – nur wenig Chancen.  Vielversprechender sind Produkte wie Kastanienmehl, -nudeln, -flocken oder -bier, die in der Schweiz trotz gesalzener Preise schon eine treue Stammkundschaft gefunden haben. Das einstige Tessiner „Brot der Armen“ als teure Delikatesse für kultur- und naturbewusste Deutschschweizer? Marco Conedera hat kein Problem damit. „Nur mit einer ökonomischen Basis hat die Tessiner Kastanie eine Zukunft“.